«Ich muss wissen, wo die Insassen sitzen, wenn ich sie schützen will»

Gewichtsoptimierter Knie-Airbag

«Ich muss wissen, wo die Insassen sitzen, wenn ich sie schützen will»
ZF hat einen neuen gewichtsoptimierten Knie-Airbag entwickelt. © ZF

Der Zulieferer ZF hat einen neuen Knie-Airbag entwickelt. Er wiegt rund 300 Gramm weniger als das bisherige Airbag-Modul. Im Interview mit der Autogazette sprechen Norbert Kagerer und Werner Freisler über die Vorteile der neuesten Entwicklung für den Insassenschutz.

Der Friedrichshafener Zulieferer ZF hat den branchenweit leichtesten Knie-Airbag entwickelt. Durch die Verwendung eines Gewebe- statt Metallgehäuses konnte das Gewicht des Knie-Airbag-Moduls um 30 Prozent auf unter 700 Gramm reduziert werden. «Das sind rund 300 Gramm weniger als beim bisherigen Airbag mit Metallgehäuse», sagte Werner Freisler im Interview mit der Autogazette.

Wie Freisler hinzufügte, der am ZF-Standort in Alfdorf den Bereich Knie-Airbag verantwortet, sei die immer strenger werdende CO2-Gesetzgebung «ein entscheidender Aspekt» für die Entwicklung gewesen. «Gewichtseinsparung ist für die Branche wichtig. Deshalb haben wir die Module entsprechend gewichtsoptimiert entwickelt», sagte Freisler. «Dazu muss sich vor Augen führen, dass es bisher schon enorm viel war, wenn man 50 oder 100 Gramm einspart. Wenn man einen derart großen Sprung von rund 300 Gramm macht, ist das enorm attraktiv für den Kunden», fügte er hinzu.

Gewebegehäuse auch beim Beifahrer-Airbag

Derzeit ist ZF bereits dabei, dass Gewebegehäuse auch bei anderen Airbags zum Einsatz zu bringen. «Wir arbeiten daran, sie auch beim Beifahrer-Airbag zum Einsatz zu bringen. Dafür gibt es bereits außerhalb Europas Interessenten», ergänzte der Leiter des Geschäftsfeldes Insassenschutz, Norbert Kagerer. Der gewichtsoptimierte Knie-Airbag wird im kommenden Jahr bei einem großen europäischen Hersteller zum Einsatz kommen. «Damit tragen wir deutlich dazu bei, die Effizienz beim Flottenverbrauch zu steigern», so Kagerer.

«Das komplette Knie-Airbag-Modul wiegt weniger als 700 Gramm»

Knie-Airbag ZF. Foto: ZF
Platzsparend lässt sich der Knie-Airbag von ZF verbauen. Foto: ZF

Autogazette: Der neue Knie-Airbag von ZF soll der branchenweit leichteste sein, da er auf ein Gewebe- statt ein Metallgehäuse setzt. Das Gewicht konnte um 30 Prozent reduziert werden. Wieviel Einsparung wurde genau erreicht?

Werner Freisler: Das komplette Knie-Airbag-Modul wiegt jetzt weniger als 700 Gramm. Das sind rund 300 Gramm weniger als beim bisherigen Airbag mit Metallgehäuse. Zusätzlich kann bei der Instrumententafel Gewicht und Bauraum gespart werden. Die gesamte Gewichtsreduzierung ist von Fahrzeug zu Fahrzeug unterschiedlich.

Autogazette: Ermöglicht die Verwendung des Gewebegehäuses auch eine schnellere Zündung des Airbags?

Freisler: Nein, die bekannte und robuste Technologie bleibt bestehen, das macht unsere Entwicklung so interessant. Doch wir sorgen ohne Einschränkung der Funktionalität für eine große Gewichtseinsparung.

Autogazette: ZF hat angekündigt, dass der Knie-Airbag im kommenden Jahr bei einem großen europäischen Hersteller zum Einsatz kommt. Sprechen wir dann von der Oberklasse?

Norbert Kagerer: Nein, wir reden von einem Volumenhersteller, nicht nur von wenigen Fahrzeugen in der Oberklasse. Damit tragen wir deutlich dazu bei, die Effizienz beim Flottenverbrauch zu steigern.

«Gewichtseinsparung ist für die Branche wichtig»

Autogazette: Die CO2-Gesetzgebung wird immer strenger. Welche Rolle spielte dies bei der Entwicklung des Knie-Airbags?

Freisler: Das war ein entscheidender Aspekt. Gewichtseinsparung ist für die Branche wichtig. Deshalb haben wir die Module entsprechend gewichtsoptimiert entwickelt. Uns ist der Wurf gelungen, nicht nur etwas Gewicht einzusparen, sondern gleich eine Menge. Dazu muss sich vor Augen führen, dass es bisher schon enorm viel war, wenn man 50 oder 100 Gramm einspart. Wenn man einen derart großen Sprung von rund 300 Gramm macht, ist das enorm attraktiv für den Kunden.

Autogazette: Wie lange hat die Entwicklung des Knie-Airbags gedauert?

Freisler: Von den ersten Überlegungen bis zur Produktreife können wir von drei bis vier Jahren sprechen.

Autogazette: Wird es Gewebegehäuse auch bei anderen Airbags geben?

Kagerer: Wir arbeiten daran, sie auch beim Beifahrer-Airbag zum Einsatz zu bringen. Dafür gibt es bereits außerhalb Europas Interessenten.

Autogazette: Über wie viele Zündungen verfügt der Knie-Airbag?

Freisler: Die meisten Zündstufen finden Sie beim Fahrer- und Beifahrer-Airbag. Die Generatoren können zwei Stufen haben, um die Insassen noch besser schützen zu können. Hier kann man die Generatorleistung noch besser abstimmen. Hier gibt es also in der Regel zwei Zündstufen, bei allen anderen Airbag-Modulen ist es eine Zündstufe.

«Er schützt die Knie, aber beeinflusst auch die Insassenkinematik»

Autogazette: Welche Vorteile bietet der Knie-Airbag unter Sicherheitsaspekten? Welche Körperbereiche außer den Unter- und Oberschenkel werden geschützt?

Freisler: Der Knie-Airbag entfaltet sich zwischen der Armaturentafel und dem Schienbein bis hoch zu den Knien. Dort bleibt er liegen und sorgt dafür, dass die unteren Extremitäten dazu beitragen, dass der Körper zurückgehalten wird. Er schützt die Knie, aber er beeinflusst auch die Insassenkinematik und bietet dadurch ein optimiertes Schutzpotenzial. Er arbeitet nach dem Motto: Kleine Ursache, große Wirkung.

Kagerer: Wir sprechen von einem Gesamtsystem. Es fängt beim Sicherheitsgurt an, reicht vom Fahrer- bzw. Beifahrer-Airbag bis zum Knieairbag. Dadurch gelingt es uns, die Gesamtkinematik, die im Falle eines Crashes auftritt, für den Körper bestmöglich zu optimieren. Der Knie-Airbag ist dabei ein Baustein des Gesamtsystems. Wir sorgen so für einen optimalen Schutz des Insassen.

Autogazette: ZF spricht davon, dass durch einen neuen Produktionsprozess neue Bauraumkonfigurationen ermöglicht werden, wodurch die Schutzfunktion erhöht wird. Was bedeutet das genau?

Freisler: Die Bauraumgrößen konnten wir sehr klein halten – und damit erfüllen wir die Ansprüche, die auf künftige Innenraumkonzepte beim automatisierten Fahren zukommen werden.

Kagerer: Das Thema Bauraum und Packaging wird zunehmend wichtiger. Wir schauen, wo wir heute den Insassen mehr Raum, mehr Möglichkeiten bieten können. Das natürlich bei gleicher, wenn nicht sogar besserer Schutzwirkung. Die ganze Industrie arbeitet daran, die Generatoren für die Airbags in ihren Bauräumen zu reduzieren.

«Werden immer stärker zur Sitzintegration kommen»

Der Center-Airbag von ZF. Foto: ZF

Autogazette: Wenn man über das autonome Fahren spricht, spricht man auch vom Auto als rollendes Büro. Bereitet Ihnen diese Vorstellung unter Sicherheitsgesichtspunkten Sorgen?

Kagerer: Natürlich müssen wir schauen, wie wir den Schutz der Insassen weiter optimieren können, wenn das Auto beispielsweise zum fahrenden Büro wird. Wenn ich die Raumfreiheiten dem Insassen gebe, dann muss ich schauen, wo die Sicherheitssysteme untergebracht werden. Wenn sich der Sitz weiter verändern wird, wird es zwangsläufig Veränderungen geben. Die Airbags, die heute im Lenkrad oder der B-Säule untergebracht sind, werden an andere Orte wandern. Wir werden immer stärker zur Sitzintegration kommen. Die Sitzintegration ist eines der Kernthemen, mit denen wir uns sehr intensiv befassen.

Autogazette: Wird es perspektivisch keinen Airbag mehr in der B-Säule geben?

Kagerer: In der B-Säule werden wir wahrscheinlicher weniger Airbags sehen, dafür bleiben Kopf-Airbags. Wir werden zusätzlich Veränderungen in der Größe und der genauen Platzierung sehen. Es wird, wie gesagt, viel in den Bereich der Sitzintegration gehen.

«Das Thema Sensorik wird immer wichtiger»

Dachairbag: Foto: ZF
Ein Dachairbag von ZF TRW. Foto: ZF

Autogazette: Welche Anforderungen kommen für Sie unter Sicherheitsaspekten mit Blick auf autonome Fahrzeuge zu, bei den die Passagiere auch entgegen der Fahrtrichtung oder liegend im Auto unterwegs sind?

Kagerer: Solange wir noch nicht zu null Unfällen im Verkehr gekommen sind, werden wir weiter die bekannten Systeme wie Sicherheitsgurt oder Airbags sehen. Wir müssen in die Sitze gehen, damit wir uns an die Situation im Fahrzeug anpassen können. Wir denken über viele Möglichkeiten nach, wie wir den Schutz auch bei gedrehten Sitzen hinbekommen können.

Freisler: In diesem Kontext wird das Thema Sensorik immer wichtiger. Denn ich muss wissen, wo die Insassen sitzen, wenn ich sie schützen soll.

Kagerer:Für einen optimalen Schutz bedarf es einer Individualanpassung. Das heißt: Wo sitzt der Insasse, wie sitzt er, welches Alter hat er? Das Alter ist dabei ein wichtiger Aspekt, gerade bei älteren Menschen. Hier muss man an die Knochensubstanz denken, um die Energie für das Schutzsystem bestmöglich einbringen zu können.

Autogazette: Sind die Airbags bereits heute mit der Sensorik des Fahrzeuges verknüpft, sodass er wie beim Pre-Safe in einen Vorbereitungszustand geht?

Kagerer: Das gibt es noch nicht, aber es wird schnell kommen, dass wir vor dem Crash die Schutzsysteme aktivieren können. Es wird dann so sein wie beim Sicherheitsgurt, der sich vor einem Zusammenstoß bereits strafft.

«Durch das autonome Fahren kommt viel Neues auf uns zu»

Innenraum im Mercedes F 015.
Im autonom fahrenden Mercedes F 015 kann der Fahrer entgegen der Fahrtrichtung sitzen. Foto: Daimler

Autogazette: Wie schwierig ist es, etwas zu entwickeln, von dem Sie zum einen nicht wissen, wann es wirklich kommen wird und vor allem welche gesetzlichen Vorschriften es dafür geben wird? Sie müssen quasi ins Blaue hinein entwickeln.

Kagerer: Natürlich kommt durch das autonome Fahren viel Neues auf uns zu. Auch in den NCAPs wird es Änderungen geben. Wir entwickeln nicht ins Blaue hinein. Wir haben ja bereits heute Erkenntnisse darüber, welche Belastungsfälle auf uns zukommen werden. Wir wissen, was wir tun.

Autogazette: Muss sich die Auslösezeit des Airbags mit Blick auf autonome Fahrzeuge verkürzen?

Kagerer: Die Auslösezeit muss sich nicht verändern. Wir sind bereits heute bei einer Auslösezeit von Millisekunden. Was sich indes verändern wird, ist das vorausschauende Fahren.

Autogazette: Es gibt mittlerweile Front-, Seiten- Dachairbags, Airbags auf der Motorhaube und bald auch einen Center-Airbag von ZF. Wird das Auto der Zukunft nur noch ein einziger Airbag sein?

Kagerer (lacht): Nein, natürlich nicht. Wir arbeiten an der Vision von null Unfällen, der Vision Zero. Ob wir Airbags in den kommenden Jahren direkt ums Fahrzeug herumbauen, glaube ich nicht.

Autogazette: ZF verfolgt die Vision Zero. Halten Sie das für realistisch, und angesichts des Mischverkehrs ab wann?

Kagerer: Ich bin Realist. Von daher weiß ich, dass es nicht von heute auf morgen geht.

Das Interview mit Norbert Kagerer und Werner Freisler führte Frank Mertens

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