Wenn sich der Abgrund auftut

Unfallstatistik

Die Kinderunfallzahlen sinken (noch), doch die Gefahren für Halbwüchsige im Straßenverkehr sind keineswegs gebannt, sondern wie Unfallforscher betonen, unvermindert hoch.

Von Martin Woldt

18 Prozent weniger getötete Kinder unter 15 Jahren verzeichnet die gerade veröffentlichte Statistik im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2006. In absoluten Zahlen sank die Anzahl der Verkehrsopfer von 136 auf 111. Das ist der niedrigste Stand seit 153. Insgesamt verunglückten 34.534 unter 15-Jährige. Etwas mehr als ein Drittel (37 Prozent) kam im Pkw ums Leben. 35 Prozent starben als Fußgänger. Ein knappes Fünftel erlag als Fahrradfahrer den Folgen eines Verkehrsunfalls. 23 Prozent der Kinder kamen zwischen 16 und 18 Uhr eines jeweiligen Tages zu Schaden.

Was Kameras offenbaren

Was Hochgeschwindigkeitskameras zu leisten vermögen, wissen wir spätestens seit der Fußball EM. Michael Ballacks in der Zeitlupe sichtbares, zum Fürchten entschlossenes Gesicht bei seinem 1:0-Siegtreffer gegen Österreich ist ein eindrucksvolles und zugleich zwiespältiges Bilddokument. In der Unfallforschung haben solche Tausendstelsekunden währenden Sequenzen schon lange ihren Platz, um Abläufe zu offenbaren, die man real gar nicht wahrnehmen würde. So zeigten die Unfallforscher der Dekra und der Axa-Winterthur etwa während ihrer jüngsten Crashtestversuche in der Schweiz ein Video, in dem sich der Körper eines Kindes nach einem Unfall zwischen den Vordersitzen hindurch schraubt. In Rücklage mit dem Schädel voran steuert er von der Zeitlupe entsetzlich in die Länge gedehnt unaufhaltsam auf das Cockpit zu. Beim Aufschlagen knickt der Kopf so weit nach hinten, dass man als zum Zuschauen verurteilter Beobachter fast schockgefriert. Und auch wenn es sich bei den Bildern um einen aufgezeichneten Crashtestversuch mit einem Dummie handelte, war doch klar, dass sich für die Beteiligten in einer solchen etwaig realen Situation nur noch der Abgrund auftun kann.

Trügerische Sicherheit

Gutes Mittel zum Training des Straßenverkehrs, aber nicht ohne Risiko: das Trailerbike im Crashtest Foto: Dekra

Der Zweck des Videos ist klar. Es soll angesichts seit Jahren rückläufiger Zahlen getöteter Kinder auf Deutschlands Straßen auf das Trügerische der Situation aufmerksam machen. So sank zwar die Zahl der Unfalltoten unter 15 Jahren seit 2000 um etwa 40 Prozent. Gleichzeitig stellen die Forscher in ihren Untersuchungen immer wieder fest. Die Quote der im Auto falsch oder gar nicht angegurteten Kinder liegt ziemlich unverändert bei etwa 60 Prozent. „Für ungesicherte Kinder ist das Risiko, tödliche oder schwere Verletzungen zu erleiden, siebenmal höher als für Erwachsene“, gibt Jörg Ahlgrimm, Leiter Unfallanalyse der DEKRA, zu bedenken. Situationen wie die in dem Video bildeten ein potentiell höheres Risiko, als es die Unfallzahlen gegenwärtig ausdrücken. Entspreche doch die Aufprallenergie bei einem Unfall mit 50 km/h der eines Sturzes von einem vierstöckigen Haus.

Bekanntes nicht verdrängen

Tödliche Fehler beim Anschnallen Foto: Dekra

So ist es sehr verdienstvoll, dass Dekra und Winterthur ihr jüngstes Crashtest-Meeting in der Schweiz unter das Motto. „Kinder auf Achse - trügerische Sicherheit im Straßenverkehr“ stellten. Denn es sollte eben nicht immer erst ein paar Tote voraussetzen, ehe sich die Öffentlichkeit mit dem doch Offensichtlichen beschäftigt. Dazu gehören eben auch ein paar lange bekannte Tatsachen, etwas das Kinder den Straßenverkehr anders erleben als Erwachsene, Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen können. Dass sie über ein eingeschränkteres Sichtfeld und bis zum Alter von etwa elf, zwölf Jahren noch nicht über stabile Verhaltensmuster in komplexen Situationen verfügen. Da die Zahl der Kinder in Deutschland generell rückläufig ist, wirken sich die unterschiedlichen Erfahrungswelten von Kindern und Erwachsenen auch gravierender aus.

Demografisches Problem?

Verunglückter Skater im Crashtest Foto: Dekra

Wer mangels Gelegenheit weniger oder kaum Erfahrung im Umgang mit Kindern hat, kann sich womöglich schwerer in deren Sicht auf den Straßenverkehr hineinversetzen. Doch selbst Eltern unterschätzen lange Bekanntes. So wiesen die Unfallforscher etwa auf Nachlässigkeiten im Umgang mit ungesicherter Ladung hin. Kann doch beispielsweise aus einer simplen ein Kilogramm schweren Wasserflasche bei einer jederzeit denkbaren Notbremsung aus etwa 50 km/h ein Geschoss mit dem Zwanzig- bis Dreißigfachen des Ausgangsgewichtes werden. Dem besser niemand in die Quere kommt.

Autohersteller weiter gefordert

Und auch die Autohersteller sind weiter gefordert. Zwar gelten seit einiger Zeit für Neufahrzeuge strengere Anforderungen an den Fußgängerschutz, doch der wurde in vielen Kompromissrunden mit den Lobbyisten soweit verwässert, dass er den Schutz von Kindern nur marginal verbessert haben dürfte. Die Zahlen bilden eben nur einen Teil der Wahrheit ab.

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