ZF mindert Unfallfolgen eines Seitencrashs ab

Außen-Airbag vorgestellt

ZF mindert Unfallfolgen eines Seitencrashs ab
Der Seitenairbag von ZF schützt gleich das ganze Fahrzeug. © ZF

Der Zulieferer ZF hat sich zum Ziel gesetzt, die Insassensicherheit zu verbessern. Nun stellen die Friedrichshafener einen Airbag vor, der die Folgen eines Seitencrashs abmindert.

Laterale Verkehrsunfälle gehören zu den tödlichsten. Fast 700 Menschen starben im vergangenen Jahr allein in Deutschland aufgrund von Seitencrashs. Das entspricht einem Drittel aller getöteten Fahrzeuginsassen. Am meisten betroffen: der Thorax. Seitlich aufprallenden Fahrzeugen bieten Fahrer oder Beifahrer ihre bisher schlecht geschützte Flanke. Den Zulieferer ZF hat das dazu veranlasst, nach Möglichkeiten zu suchen, diese Gefahrenstelle zu dämpfen. Mit messbarem Erfolg.

Externer Seitenairbag heißt die Lösung. Was das Auto im Innenraum schon mehrfach in Serie hat, kommt jetzt ans Exterieur. Die zusätzliche Knautschzone kann die Unfallfolgen für Insassen derzeit um bis zu 40 Prozent mindern. Das ist erheblich, denn bei den Eindrücken an der Fahrgastzelle zählt jeder Zentimeter weniger, um fatale Quetschungen für Leib und Leben möglichst vermeiden. Dieses Eindringen in die Karosserie kann das Pre-Crash-Schutzsystem derzeit um bis zu 30 Prozent reduzieren.

Schutzsystem für Mobilität der Zukunft

Bei ZF sieht man das neue Schutzsystem für Seitencrashs nicht zuletzt als eine wichtige Antwort auf die Mobilität der Zukunft, deren zunehmenden Automatisierungsgrad beim Fahren und die daraus resultierenden flexibleren Sitz- oder Liegepositionen der Insassen. „Wir müssen weitaus mehr Szenarien betrachten als früher, angefangen von der klassischen Sitzposition, über sich drehende Sitze, bis hin zu einer Kombination zwischen Sitzen und Stehen, wie etwa im e.Go Mover von Professor Schuh“, so Uwe Class, Leiter der Vorentwicklungsabteilung bei ZF. „Wir haben nachgewiesen, dass dieses Schutzsystem bei einem Seitenaufprall die Unfallfolgen für Fahrzeuginsassen deutlich mindern kann“, betont Class. Das Novum: Dieser bislang größte Airbag an einem Automobil wird Millisekunden vor einem sich anbahnenden Zusammenprall ausgelöst.

Zusammen mit der RWTH Aachen forscht ZF auch an neuen Steuerungskonzepten, die eine sichere Interaktion zwischen Mensch und zunehmend automatisierter Maschine Auto erlauben. Die Erkenntnisse von Safe Human Interaction (SHI) beinhalten Ideen, die einen weiteren Beitrag auf dem Weg zur Vision Zero ohne Unfälle leisten.

Pre-Crash Schutzsystem als Knautschzone

ZF will die Insassen bei einem seitlichen Crash mit einem Seitenairbag besser schützen. Foto: ZF

So unmittelbar einleuchtend die Idee, so knifflig die Umsetzung. Das weltweit erste Pre-Crash-Schutzsystem auf Basis eines am Fahrzeugäußeren angebrachten Airbags stellte den Zulieferer vor mannigfache Herausforderungen – wie die Wahl eines wettertauglichen Materials aus Polyamid, das außerdem deutlich mehr Druck aushalten muss als ein Airbag im Inneren, nämlich 2,5 bar gegenüber 1,1 bar.

Je nach Fahrzeug ist der Seitenairbag 280 bis 400 Liter groß, hat damit das fünf- bis achtfache Volumen eines Fahrer-Airbags. Vor allem aber bekamen die ZF Kollegen in der Sensorentwicklung ein kniffliges Lastenhaft darüber, was die Sensoren binnen weniger Millisekunden zu leisten imstande sein müssen. Die stetige Verbesserung der Sensoren ist entscheidend.

„Die höchsten Anforderungen an Sensorsysteme werden aus der Sicherheit kommen“, weiß Class aus Erfahrung. Das betrifft das autonome Fahren, ein weiteres ZF Kompetenzfeld, genauso wie integrierte Sicherheitssysteme. Beim Pre-Crash-Schutzsystem muss ein komplexes Zusammenspiel von Kamera, Lidar und Radar mögliche Gefahren schlagartig und präzise identifizieren. Bislang leisten dies sechs Radar-, vier Lidar- und acht Kamerasensoren, die miteinander vernetzt sind. Damit lasse sich eine nahezu 100prozentige Abdeckung aller erdenklichen Szenarien erzielen, berichten die Experten von ZF.

Algorithmen, die ebenfalls inhouse entwickelt werden, entscheiden anschließend zweierlei – zum einen, ob ein Aufprall eines Seitencrashs unvermeidlich ist und wenn ja, ob das Auslösen des Airbags möglich und vorteilhaft ist. Bei Radfahrern oder Motorradfahrern als Unfallgegner beispielsweise wird nicht ausgelöst, um die Unfallschwere für diese Verkehrsteilnehmer nicht potenziell zu erhöhen. Prinzipiell ist das System aber darauf ausgelegt, die Fahrzeuginsassen seitlich zu schützen.

Serienreife steht bevor

Zweieinhalb Jahre haben die Entwickler am Reifeprozess ihres Airbag Prototypen getüftelt. Nun geht es ans Eingemachte, daran, das Pre-Crash Schutzsystem in Serie zu bringen. „Dazu braucht es die verbindliche Zusage eines Herstellers zur Kooperation. Die muss intensiv sein und frühzeitig einsetzen, insbesondere was die Fahrzeugkonstruktion betrifft“, sagt Class.

Es gilt, die lange Rolle des Airbags, die man sich ungefähr wie einen fest zusammengepressten, der Länge nach eingerollten Schlafsack vorstellen kann, ins Gesamtkonzept zu integrieren. Das betrifft in erster Linie konstruktive Aspekte wie Steifigkeit und Stabilität. Schließlich ist die Integration eines sich blitzschnell vom Schweller nach oben entfaltenden Airbags ein gewaltiger Eingriff in die Konstruktion eines bestehenden Fahrzeugtyps. Nicht zuletzt muss der Seitenairbag so angebracht werden, dass er die Optik des Fahrzeugs nicht zerstört. Dass dies gelingen kann, davon ist man in Friedrichshafen überzeugt. Schließlich habe sich der Airbag im Lenkrad auch sukzessive eleganter ins Fahrzeuginterieur integrieren lassen. Erste Interessensbekundungen seitens der Hersteller gebe es.

Das Ausrollen in die Serie werde weitere vier bis fünf Jahre dauern, rechnet man bei ZF. Als Ort für den großen Airbag für Seitencrashs kommt dabei jeweils nur der Seitenschweller in Betracht, weil die Gasgeneratoren den Airbag hier am schnellsten nach oben füllen können. Schnell heißt blitzschnell: Zwischen Entscheiden, Zünden und Füllen liegt nicht mehr als ein menschlicher Wimpernschlag oder circa 150 Millisekunden.

Aufprall bei höherer Geschwindigkeit

Der Seitenairbag von ZF ist im Seitenschweller verbaut. Foto: ZF

ZF führt seine Crashtests bei einer Geschwindigkeit von 65 km/h durch. Ein Aufprall bei dieser Geschwindigkeit ist gewaltig und führt die Vorteile des Seitenairbags gegenüber Fahrzeugen, die einen solchen nicht haben, noch deutlicher vor Augen als bei einem Aufprall mit 50 km/h, wie ihn der NCAP, das Europäische Neuwagen-Bewertungsprogramm, für seine Sicherheits-Zertifizierungen ansetzt.

Das Pre-Crash-Schutzsystem klinkt sich ein in bestehende Schutzsysteme wie die Pre-Safe Sound Entwicklung von Daimler, wonach ein vom Auto eingespielter medizinisch ermittelter Ton die Folgen eines Unfalls fürs Gehör zu lindern vermag. Doch außer dass der externe Seitenairbag Teil eines Gesamtsystems wird, tragen die Vorab-Informationen über eine unvermeidliche Kollision auch dazu bei, die Wirkung etablierter Serien-Sicherheitstechnik weiter zu verbessern. Auf dem Gelände des ehemaligen Militärflughafens Memmingerberg bei Memmingen zeigte der Zulieferer dies unter anderem am aktiven Gurtstraffer ACR8, der verschiedene Warnstufen bereithält und den Insassen im Falle eines Unfalls in eine sichere Sitzposition bringt.

Auf desem Testgelände demonstrierte ZF zudem einen typischen Seitenaufprall an einer Kreuzung. Schon bei 30 km/h war der Impact gewaltig. Was mit dem bloßen Auge nicht erfassbar war, förderte der Videomitschnitt in Zeitlupe zutage: Erst wenige Zentimeter vor dem finalen Aufprall öffnet sich der Airbag blitzschnell.

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Susanne Roeder
Während des Studiums der englischen und klassischen Philologie in Freiburg, Cambridge, Oxford und Promotion in englischer Sprache arbeitete sie bei BBC Radio Oxford und deutschen öffentlich-rechtlichen Sendern. Bei einer Agentur mit Mercedes als Hauptkunden begann ihre Liebe für Automobile. Nach Stationen als Pressesprecherin in der Industrie ist sie mit Globaliter Media selbständige Journalistin.

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