Vision Zero auf dem Prüfstand

Fehlender Blickkontakt der Autofahrer

Vision Zero auf dem Prüfstand
Unfallfreies Fahren kann auch beim vollautomatisierten Fahren nicht ausgeschlossen werden. © Audi

Das autonome Fahren soll nach Angaben der Autohersteller auch die Unfallzahlen in Richtung Null senken. Doch die Psychologie der Insassen wird dem Ansinnen der Autobauer einen Strich durch die Rechnung machen.

Von Thomas Flehmer

Träume dürfen erlaubt sein. Wie schön wäre es, wenn keine Drängler oder andere Fahrer die linke Spur auf der Autobahn besetzt halten und anderen auf diese Art und Weise ihren Willen aufdrängen – oder ein sicheres Fahren ohne in Unfallgefahr zu geraten. Anstatt hektisch geht es gemütlich zum Ziel und man selbst muss keinen Handschlag dafür tun, sondern kann während der Fahrt lesen, schreiben, schlafen oder ähnliches. Die Vision Zero, also ein Verkehr ohne Unfälle, die so manchem Autohersteller vorschwebt, wird die Realität aber wohl eher nicht erreichen.

Wie reagiert der Fahrer in Notsituationen?

"Verschiedene Fahrer – verschiedene Einstellungen", sagt Professor Mark Vollrath von der Technischen Universität Braunschweig im Gespräch mit Autogazette.de. Der Verkehrspsychologe verweist auf die weiterhin bestehende Verantwortung des Fahrers selbst bei vollautomatisiertem Fahren. Denn auf die Einstellung der Systeme komme es an. "Stellt der Fahrer die Systeme auf gemütlich oder auf dicht und drängelnd?"

Doch nicht nur beim normalen Fahren ergeben sich psychologische Hürden. Entscheidungskonflikte werden in Notsituationen auftreten, wenn zum Beispiel ein Notbremsvorgang ansteht. Der Fahrer weiß zwar, dass das Auto besser bremsen kann als der menschliche Fuß, doch kann der Fahrer hinter dem Lenkrad sitzen und tatenlos das Hindernis immer schneller auf das eigene Auto zukommen sehen? Vor allem dann, wenn der Fahrer zuvor abgelenkt war und erst kurz vor dem Aufprall sich der Situation gewahr wird?

Knackpunkt: Fahrer darf jederzeit Maschine übertrumpfen

Viele Autofahrer fühlen sich überfordert im Umgang mit Fahrassistenzsystemen.
Wie reagiert der Autofahrer in Notsituationen? Daimler

Fragen, die auch die Psychologen noch nicht eindeutig beantworten können. Doch die Gefahr beim teilautomatisierten Fahren scheint höher zu sein, da der Fahrer dann hinter dem Lenkrad sitzt und dann eingreifen kann – auch wenn er nicht muss. Doch die allgemeine Forderung, dass der Fahrer nicht entmachtet werden darf, hat dann halt auch Vor- und Nachteile. Nachteile dann, wenn der Fahrer die Systeme übertrumpft und in der Notsituation falsch bremst.

Tobias Ruttke von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena sieht in der Frage nach dem Überstimmungsrecht des Menschen gegenüber der Maschine auch die Gefahr, dass "die Vision Zero bei selbstfahrenden Fahrzeugen nicht realistisch" ist.

Vollautomatisierter Verkehr lässt noch auf sich warten

Vollrath fordert deshalb, dass "der Anteil am voll-automatisierten Fahren wachsen" müsse und sieht die Technik dabei auf einem guten Weg. "Die heutige Technik mit Abstandstempomaten, Spurhalteassistenten oder Notbremsassistenten leistet dem Vorschub." Doch Vollrath rechnet nicht damit, dass der vollautomatisierte Verkehr innerhalb der nächsten 20 Jahre Einzug halten könnte. "Und selbst wenn die ersten Fahrzeuge auf den Straßen sind, dauert es ebenfalls noch sehr lange, ehe ein hoher Anteil an automatisierten Fahrzeugen im alltäglichen Verkehr integriert ist."

Auch die European Transport Safety Council (ETSC) glaubt nicht an autonome Fahrzeuge als "Allheilmittel" gegen Verkehrstote. Die unabhängige und unparteiische Vereinigung, die auf forschungsgestützter Basis Empfehlungen zu verkehrs- und sicherheitsrelevanten Themen und Schwerpunkten gibt, die auf der EU-Agenda stehen, folgt dabei einer Studie der Universität von Michigan.

Blickkontakt untereinander fehlt

In dem Report wird bemängelt, dass im Verkehr zwischen selbst fahrenden Fahrzeugen und Fahrzeugen mit menschlichen Fahrern der Blickkontakt untereinander fehle, der ansonsten häufig im Verkehr eingesetzt werde und durch den sich Autofahrer untereinander verständigen. Dieser wichtige Kontakt würde bei selbstfahrenden Fahrzeugen entfallen.

Ebenfalls wird in der Studie die Fähigkeit der Systeme bei Nebel, Schnee oder starkem Regen hinterfragt oder auf Straßen, auf denen Pferde unterwegs sind oder auf denen eine temporäre Baustelle die bisherigen Straßenparameter durcheinander bringt. Die ETSC setzt daher zunächst auf eine konstante Entwicklung der bisher verfügbaren Sicherheitssysteme. "Wir sehen ein riesiges Potenzial bei den Fahrassistenzsystemen wie Tempomaten oder Brems-Systemen, um tausende Leben zu retten. Aber es ist noch ein langer Weg, bis selbstfahrende Fahrzeuge Realität werden", sagt Antonio Avenoso, Executive Director der ETSC. "Wir müssen uns deshalb auf die Systeme konzentrieren, die in diesem Jahr Leben retten, und nicht in zehn oder zwanzig Jahren."

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Thomas Flehmer
Der diplomierte Religionspädagoge arbeitete neben seiner Tätigkeit als Gemeindereferent einer katholischen Kirchengemeinde in Berlin in der Sportredaktion der dpa. Anfang des Jahrtausends wechselte er zur Netzeitung. Seine Spezialgebiete waren die Fußball-Nationalelf sowie der Wintersport. Ab 2004 kam das Autoressort hinzu, ehe er 2006 die Autogazette mitgründete. Seit 2018 ist er als freier Journalist unterwegs.

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