König der Landstraße

Harley-Davidson Road King Classic ABS

Der Name ist Programm: Auf der Harley-Davidson Road King Classic kommt man sich tatsächlich wie der König der Landstraße vor. Ungeachtet der nostalgisch anmutenden Hülle wird modernste Zweiradtechnik geboten.

Von Thilo Kozik

An der Ampel ruft mir der nebenan stehende Trucker von oben zu: «He, da kriegt man ja fast ständig ‘nen Orgasmus, oder?» Da springt die Ampel auf Grün und er biegt ab, bevor ich ihn fragen kann, was er wohl gemeint hat: Das sichtbare Schütteln des ganzen Motorrades im Leerlauf oder die offensichtliche Bewunderung, die diesem Motorrad - und ein bisschen davon seinem Fahrer - allerorten zuteil wird. Diese Aufmerksamkeit verdient sich die Harley-Davidson Road King Classic mit ihrer stimmigen Retro-Fassade mit ausladend viel chromfunkelndem Schnickschnack, klangechten Sidepipes, passenden Speichenrädern mit klassischen Weißwandreifen und den allgemein üppigen Dimensionen. Man schaue sich nur mal den fetten Vorderrad-Kotflügel aus solidem Metall an!

Entspannung pur

Hat man einmal Platz genommen auf dem tiefen, weich gepolsterten Sitz und die Stiefel auf den ausladenden Trittbrettern im DIN-A3-Format abgestellt, hat man sich schon automatisch mit dieser nostalgischen Ansage infiziert: Unwillkürlich lockern sich verkniffene Gesichtszüge, entkrampft sich der verspannte Rücken, schlägt das Herz langsamer, kurzum: der stressgeplagte Geist entspannt sich.

Spätestens, wenn ein Druck aufs Knöpfchen den mächtigen Milwaukee-Twin erweckt, schüttelt dieser mit jeder einzelnen Kurbelwellen­umdrehung die letzten Sorgen ins Hinterstübchen. Diese antiquierte Unbeherrschtheit streift die Harley jedoch mit dem ersten Gasgeben ab, die intelligente Motorlagerung macht aus dem ungehobelten Klotz ein kultiviertes Triebwerk mit nur noch minimalen Vibrationen.

Elektronisch gesteuertes Gasgeben

Mit Tempomaten unterwegs Foto: Harley-Davidson

Apropos Gasgeben: Dies erfolgt nicht mehr wie früher über eine bowdenzuggesteuerte Drosselklappe, seit diesem Jahr geben Fahrer aller Harley-Touringmodelle elektronisch gesteuert über einen Stellmotor Gas, auch «drive-by-wire» genannt. Das erscheint leichtgängiger, aber auch minimal verzögert.

Mit dieser Neuerung geht bei der Road King Classic ein serienmäßiger Tempomat einher. Von beiden Lenkerenden aus bedienbar, macht dieser das Leben in geschwindigkeitsregulierten Bereichen leichter. Gemeinsam mit einem als Overdrive ausgelegten sechsten Gang sorgt diese Technik für moderaten Spritverbrauch, der im Schnitt bei gut 5,6 Liter auf hundert Kilometer liegt, und das trotz einer für dieses Jahr überarbeiteten Motorsteuerung, die dem 1584 ccm großen 45-Grad-Vau weitere vier PS entlockt.

Guter Windschutz

Damit tritt die 345 Kilo schwere Road King aus dem Stand recht ordentlich an, bei jedem Gangwechsel untermalt von einem lautstarken «Klonk». In freiem Geläuf erreicht sie maximal 165 km/h. Doch solche Tempi bleiben die Ausnahme, schließlich will man mit einem solchen Motorrad cruisen, nicht rasen. Abgesehen davon beginnt die Fuhre ab Tacho 150 beim Überfahren von Bodenwellen und böigem Seitenwind zu taumeln, was an der komfortablen Abstimmung der Federelemente wie dem hoch aufragenden Vorbau liegt - der sich per Schnellverschluss übrigens im Handumdrehen entfernen lässt.

Bei Normaltempo macht sich aber genau das bezahlt: Hinter der Scheibe genießt die Besatzung einen guten Windschutz, der nur die Beine auslässt. Leichte Turbulenzen an Helm und Oberkörper sind nicht weiter störend, beispielsweise würde ein optionales Soundsystem nicht sonderlich beeinträchtigt dadurch. Hohen Fahrkomfort stellen die Gabel wie die luftunterstützten Federbeine bereit. Sensibel werden die meisten Fahrbahnunebenheiten geschluckt, nur derbe Buckel landen unsanft im Fahrer-Rückgrat.

Verborgenes ABS

Recht neutrales Kurvenverhalten trotz 345 Kilogramm Foto: Harley-Davidson

Trotz der komfortorientierten Auslegung ergibt sich ein recht neutrales Kurvenverhalten, und zum Einlenken erfordert der Classic-King nicht allzu viel Kraft. Für schnelle Wechselkurven ist jedoch der Fahrereinsatz gefragt, und dass flott gefahrene fast sieben Zentner in Schräglage zum Außenrand hin tendieren, darf niemanden überraschen.

Genau so wenig wie der große Wendekreis, der einen Einsatz in engen Innenstädten zum Kraftakt ausarten lässt. Doch wer sich dieses Motorrad im Stand angesehen hat, wird von der Landstraßen-Wendigkeit überrascht sein und beim knackigen Bremsen erstaunt feststellen, dass hier ein ABS werkelt, welches ganz bewusst den Blicken verborgen wurde, um die typische Harley-Retro-Anmutung nicht zu zerstören.

Verzögern ohne Sturzgefahr

Statt der bekannten Sensorkränze mit Impulsgebern erfassen magnetisch kodierte Radlager die Raddrehzahl und informieren das im vorderen Rahmendreieck verborgene ABS-Modul über eventuell notwendige Regelarbeiten. Bei heftigen Verzögerungen taucht die Gabel infolge der kommoden Auslegung zunächst tief ein, bevor das ABS eingreift - deutlich früher als bei leichteren und fahrstabileren Allroundmotorrädern. Geregelt wird bis zu siebenmal pro Sekunde, weit schneller, als man es selbst vermag.

Dennoch gibt es auf schlüpfrigem Untergrund wie rutschigen Kanaldeckeln bisweilen das Phänomen, das die Bremse für einen Sekundenbruchteil aufmacht, bevor sie wieder packt. Das ist ungewohnt und unangenehm, doch unterm Strich sorgt das System für deutlich sichereres Verzögern ohne Sturzgefahr. Das sehen die Harley-Manager genau so, deshalb werden ab dem Modelljahr 2009 europaweit alle Touringmodelle serienmäßig mit ABS angeboten, nachdem der Blockierverhinderer in diesem Jahr optional zu haben ist.

Hoher Einstiegspreis

Wahrer König der Landstraße Foto: Harley-Davidson

Tourenfahrer erfreut die Road King Classic nun mit einem um 3,8 auf 22,7 Liter gestiegenen Tankvolumen, das angesichts des moderaten Verbrauchs Reichweiten von bis zu 400 Kilometer ermöglicht. Eine weitere Kleinigkeit verhindert nun, dass man mit ausgeklapptem Seitenständer auf große Tour gehen kann - sinnvolle Detailpflege, wie sie sein soll.

Schön dass die intelligente optische Ausblendung aller Fortschritte den ursprünglichen Charakter der Road King Classic bewahrt - und nebenbei dem wahrlich nicht geringen Einstandspreis von 21.735 Euro einen höheren Gegenwert beschert.

Keine Beiträge vorhanden