Aprilia Shiver SL 750: Nackte Versuchung

Die SL 750 von Aprilia belebt den Markt der unverkleideten Allrounder. Neben einer guten Verarbeitung bietet das Bike vor allem auch überzeugende Fahrleistungen.

Von Thilo Kozik

Die Aprilia SL750 Shiver war längst überfällig. Vor neun Jahren schon stieg Aprilia mit der RSV Mille ins Superbike-Segment ein. Mittlerweile ist es bereits fünf Jahre her, dass die nackte Tuono das Portefeuille ergänzt. Doch erst jetzt kommt Aprilia mit diesem 750er Roadster, der die Lücke zwischen den großen 998-Kubik-V-Twins und den kleineren Einzylindern der Marke schließen soll. Somit kommt der Shiver im Aprilia-Programm der Status eines Einstiegs-Big Bikes zu, das mit ausreichend Leistung auch erfahrene Motorradfahrer ansprechen kann.

Selbst entwickelter Antrieb

Doch nicht nur deshalb ist die SL für Aprilia von besonderer Wichtigkeit: Nach den Rotax-befeuerten RSV- und Yamaha-motorisierten Pegas-Modellen ist sie das erste größere Motorrad mit einem selbst entwickelten und gefertigten Antrieb. Dafür zeichnet Aprilias Mutterunternehmen Piaggio verantwortlich, das sich gegen die bisherige Einkaufs-Strategie Aprilias entschieden hat und von nun an die Aggregate im firmeneigenen Motorenwerk selbst fertigt.

Beim Motorenlayout selbst orientiert sich die SL750 ganz bewusst bei der großen RSV Mille, der flüssigkeitsgekühlte dohc-Vau-Motor hat sich mittlerweile zu einem Markenzeichen von Aprilia-Motorrädern gemausert. Doch sind die Shiver-Zylinder im Winkel von 90 statt 60 Grad gespreizt, zudem ersetzt eine Nasssumpfschmierung den Trockensumpf. Die Steuerung der vier Ventile erfolgt per Steuerkette zu einem zentralen Zahnrad, das die beiden Nockenwellen antreibt.

Neues Fly-by-wire-System

Das Cockpit der Aprilia SL 750 Shiver Foto: Aprilia

Wichtigste technische Neuerung der Shiver ist ihr Fly-by-wire-System. Ähnlich wie bei Yamahas R6 und R1 sowie KTMs 690SM steuert bei der Shiver eine Elektronik die Drosselklappen. Aprilia nutzt dafür ein Duo Steuergeräte und zahlreiche Bauteile aus der Automobilwelt. Im Gegensatz zu anderen Systemen verzichten die Italiener auf einen mechanischen Schließ-Zug und verlassen sich gänzlich auf Kabel zur Kommunikation zwischen Gagriff und Drosselklappen.

Schaut man sich das überquadratische Hub-Bohrungsverhätlnis von 92 zu 56,4 mm an, so legt das den Schluss nahe, dass der Motor höher als das Shiver-Maximum von 9900 Touren zu drehen vermag - mit entsprechend höherer Leistungsausbeute. Tatsächlich hat Aprilia eine ganze Familie um den 750er Twin in der Pipeline, mit noch sportlicheren Modellen. Doch auch schon die 95 Pferchen der Debütmodells reichen aus, um der gestandenen Mittelklasse-Vau-Konkurrenz aus Ducatis 800er Monster und Suzukis SV650 die Stirn zu bieten.

Ganz abgesehen vom modern-aggressiven Techno-Look der scharfen Optik. Hier finden sich mehr als bloße Andeutungen einer MV Brutale, auch die Kombination aus Stahl-Gitterrohrrahmen mit gegossenen Leichtmetallsektionen um die Schwingenaufnahme hat etwas höchst Attraktives.

Goldener Lenker

Die zwei Auspufftöpfe an der Aprilia SL 750 Shiver Foto: Aprilia

Mit 189 kg fällt die Shiver durchaus leichtgewichtig aus, hinzu kommt ein schmaler und niedriger Sitz für einen schon im Stand sehr kontrollierbaren Eindruck. Gut liegt die breite, gold eloxierte Lenkstange in Händen, nur die Rasten sind weiter hinten angebracht als erwartet - beim Fußauflegen ohne Blickkontakt tritt der Stiefel erst mal ins Leere. Genau so sportlich wie die Rastenlage gibt sich die Instrumententafel mit vielen, vom linken Lenkerende aus abrufbaren Informationen. Als Ohrenmassage wirkt die fleischige Vau-Note, die den beiden Underseat-Schalldämpfern entweicht.

Schon auf den ersten rollenden Metern bestätigt die Shiver diesen sportlichen Ansatz, als ich dem Aprilia Testfahrer auf der in engen Kehren ansteigenden Bergstraße folge. Hier ist Druck in der Drehzahlmitte gefragt, und den hat der Aprilia-Twin: Zusammen mit einem sehr präzisen Gasgefühl des Fly-by-wire-Systems drückt die Shiver unten herum durchaus ordentlich, lebt ab etwa 5000 Touren auf ohne mit hartem Motorlauf oder Vibrationen zu nerven.

Reichlich Fahrspaß

Die Seitenansicht der Aprilia SL 750 Shiver Foto: Aprilia

Auf den schmalen, verwinkelten Straßen hilft der breite Lenker, die Shiver auf der richtigen Linie durch die Haarnadelkurven zu führen. Das geringe Gewicht und die handliche Auslegung sorgen für reichlich Fahrspaß, obwohl das Lenkverhalten infolge der konservativen Lenkgeometrie mit 25,7 Grad Lenkkopfwinkel und 109 mm Nachlauf nicht sonderlich leichtfüßig vonstatten geht. Doch die Aprilia bleibt sauber auf der Linie und lässt sich mühelos korrigieren, um einem tiefen Schlagloch oder ekligen Bitumenflecken auszuweichen.

Richtig gut fühlt sich die Aprilia in den sich anschließenden weiteren Bögen mit entsprechend höheren Geschwindigkeiten. Bis Tacho 200 geht der Vau recht ordentlich, doch darüber wird’s dünn. Für die restlichen rund 10 km/h bis zur Vmax fehlt ihr etwas die Luft, doch ist das bei einem Naked Bike tolerierbar. Solche Hochgeschwindigkeitsetappen sind ohnehin durch den übers Cockpit streichenden Fahrtwind kein Ding von langer Dauer.

Die Hinterradaufhängung an der Aprilia SL 750 Shiver Foto: Aprilia

Überraschenderweise markiert der saubere Motorlauf bei niedrigen Drehzahlen einen beeindruckenden Aspekt des Shiver-Vau. In puncto Fahrerfreundlichkeit haben Aprilias Ingenieure einen richtig guten Job abgeliefert. Nicht nur die gute Fahrbarkeit unten herum, auch das gute Ansprechverhalten des Fly-by-wire-Systems aus dem Stand wie beim kurzen Sprint in der Innenstadt sind herausragende Eigenschaften des Mittelklasse-Twins.

Für erfahrene Sportfahrer könnte unten herum indes noch mehr passieren, das machtvolle Öffnen der Drosselklappen unter 5000 U/min bewirkt noch keinen Tritt in den Rücken. Zumindest gehen Wheelies ohne Kupplung schwieriger als man es bei einer 750er erwartet hätte. Bisweilen wirkte zudem das Sechsganggetriebe nicht souverän, beim Schalten landete man des öfteren zwischen den Zahnradpaaren.

Beim Fahrwerk gab es allenfalls Kleinigkeiten zu monieren. Unter verschärften Bedingungen über einen Pass und auf der anderen Seite mit knackigem Tempo wieder ins Tal hinab arbeitete die nicht einstellbare Showa Upside-Down-Gabel nicht perfekt und leitete kleinere Impulse ins Fahrwerk. Doch bleibt dies ein akademischer Kritikpunkt, insgesamt betrachtet bietet die Abstimmung nämlich einen passablen Kompromiss aus Komfort und sportlicher Direktheit. Gleiches gilt für die diagonal in Cantilever-Bauweise rechtseitig montierte Sachs-Einheit am Heck, einstellbar in Vorspannung und Zugstufendämpfung. Diese arbeitet schon in der Standard-Einstellung zufrieden stellend.

Gute Bremsen

Die Aprilia SL 750 Shiver Foto: Aprilia

An der Upside-Down-Gabel befinden sich der aktuellen Mode gehorchend radial angeschlagene Vierkolben-Festsattelzangen. Die Wirkung der 320er Doppelscheibenbremse darf als mühelos und mehr als ausreichend bezeichnet werden, selbst eine schnelle Abfolge von Bergab-Kehren brachte die Bremsanlage nicht aus dem Konzept. Später im Jahr soll dann eine Version mit ABS der Standard-Shiver folgen. Dunlops Sportmax Qualifier-Pneus agierten weitgehend neutral, und ein paar winzige Rutscher dürften zuvorderst der rutschigen Oberfläche anzukreiden sein. Was die enorme Schräglagenfreiheit angeht, dürfte die schmale Shiver alles ausloten, was diese Gummis hergeben können.

Insofern macht die SL750 als unverkleidetes Mittelklasse-Sportmotorrad eine gute Figur und belebt den Markt der nackten Allrounder. Ihre Verarbeitung ist mustergültig, Details wie Spiegel, einstellbare Hebeleien und das Cockpit - inklusive Laptimer - unterstützen diesen Eindruck. Etwas mehr könnte indes der Tank fassen - bei 15 Liter Volumen fällt die Reichweite doch recht gering aus.
Nicht nur für Aprilia-Upgrade-Fahrer stellt die Shiver ein gutes Angebot dar, auch wer einen vielseitigen Allrounder mit charakterstarker Note sucht, wird hier fündig. Denn er bekommt belebende Motorenpower mit agilem Handling, in italienisches Design gehüllt und mit technisch hochstehenden Features versehen - zu einem richtig konkurrenzfähigen Preis von 7999 Euro plus Nebenkosten.

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