Krönung des Rollerbaus

Gilera GP 800

Gilera hat dem Maxi-Scooter GP 800 Motorrad-Gene eingepflanzt. Der italienische Roller verführt seinen Fahrer häufig an die Grenze des Führerscheinentzugs – und auch darüber hinweg.

Von Thilo Kozik

Eine einzigartige Roller-Motorrad-Kombination bietet Gilera mit dem Maxi-Scooter GP 800 an. Mit dem kettengetriebenen V2-Motor hat die italienische Marke dem Roller die Leistungskrone aufsetzt: 55 kW/75 PS schöpft der 9579 Euro teure Tourensportler aus 839 ccm Hubraum. Damit ist er nicht nur im Rollersektor eine Macht. Kein anderer Maxi-Scooter kam bislang auch nur in die Nähe des potenten Italieners. Da wird sogar der große Suzuki Burgman 650 blass, der als zweitstärkster Vertreter gerade mal 56 Pferdchen befehligt.

Wahnwitzige Höchtgeschwindigkeit für Roller

Als Alleinstellungsmerkmal dient dem GP 800 der einzige 90-Grad-V2-Motor der Rollergeschichte. Die Konstruktionsmerkmale des flüssigkeitsgekühlten Aggregats lesen sich wie bei einem waschechten Motorradmotor: Eine obenliegende Nockenwelle steuert vier Ventile je Zylinder, für die Gemischzubereitung ist eine elektronische Einspritzung zuständig, entflammt werden die großen Einzelbrennräume per Doppelzündung.

Infolge der enormen Leistung und des gewaltigen Drehmoments von 73 Nm bei 5750 U/min kommt ein Einbau als rollertypische Triebsatzschwinge nicht in Frage. Der V2 sitzt daher fest verbaut im Doppelschleifen-Verbund. Seine Kraft liefert er wie beim Motorrad über eine konventionelle Kette an das 15-zöllige Hinterrad. Diese Nähe zum Bike kommt nicht von ungefähr: Fast ohne Modifikationen treibt der gleiche Motor auch das Automatik-Motorrad Mana der Schwestermarke Aprilia an. Das bedeutet für den GP 800 konkurrenzlose Beschleunigungs- und Durchzugswerte, als Höchstgeschwindigkeit stehen 193 km/h an - für einen Scooter geradezu wahnwitzig.

Führerschein in Gefahr

Fahrspaß verleitet Foto: Gilera

Das führt dazu, dass man sich in der Stadt wie auf der Landstraße selbst an die Kandare nehmen muss, um nicht ständig in führerscheingefährdenden Geschwindigkeitsbereichen unterwegs zu sein. Denn das ohne Ausgleichswelle auskommende Herzstück läuft sehr sanftmütig und geschmeidig, jeder Dreh am Gasgriff wird mit satter Beschleunigung belohnt. An der Ampel ledert der GP 800-Treiber den Rest des Starterfeldes locker ab und auf der Autobahn beschert das Aggregat sogar noch bei 120 km/h freudvollen Schub.

Mit so viel Dynamik muss ein Fahrwerk erst einmal zurecht kommen, deshalb zeigte sich der erste GP 800 von 2007 auf der sicheren, stabilitätsorientierten Seite. Allerdings schossen die Entwickler dabei ein Stück übers Ziel hinaus: Der Gilera war zwar ein Tempobolzer vor dem Herrn, doch für den Alltagseinsatz im engen Stadtgeläuf einfach zu störrisch und von den Federelementen her zu unnachgiebig ausgelegt.

Ausgezeichneter Federungskomfort

Damit räumt das aktuelle Modell teilweise auf. So kann der Gilera vor allem mit seinem ausgezeichneten Federungskomfort punkten. Fahrbahnunebenheiten und Bodenwellen schluckt die konventionelle Telegabel weg wie nix, auch das seitlich platzierte, horizontal montierte Einzelfederbein verrichtet seinen Dienst anstandslos. Die kritisierte, allzu sportliche Dämpfung des Vorgängers ist damit passé.

Beim Geradeauslauf im Hochgeschwindigkeitsbereich gab es bislang ohnehin kaum etwas zu meckern, sieht man einmal von der leichten Pendelneigung ab Tempo 180 ab. Doch jetzt erstaunt der neue GP 800 im kurvigen Gebiet mit souveräner Handlichkeit: Weitaus agiler als das vorherige Modell nimmt er geschwungene Verläufe unter die großen Räder. Bei langsamem Tempo oder beim Wenden macht sich der größere Lenkeinschlag durch einen noch akzeptablen Wendekreis bemerkbar.

ABS fehlt noch

Fünf Liter auf 100 Kilometern Foto: Gilera

Motorradähnlich gut fällt auch die Verzögerung mit dem Drei-Scheiben-System aus, das richtig sportlich zupackt und knackig verzögert. Positiv sind hier die einstellbaren Bremshebel, die ein individuell angepasstes Bremsgefühl möglich machen. Jetzt fehlt dem 262-Kilogramm-Koloss nur noch ein ABS, dann stünde dem Stoppvergnügen nichts mehr im Wege.

Beim Verbrauch zeigt sich der Roller genügsam: Rund fünf Liter Sprit genehmigt er sich auf 100 Kilometern. Der Gilera selbst trägt nicht nur durch den tollen Motor, sondern auch durch großzügige Verhältnisse selbst für zwei Personen auf der breiten Sitzbank zur Fahrfreude bei. Aufrecht und mit sehr lässigen Kniewinkeln sitzt der Fahrer, für zusätzlichen Komfort sorgt die kleine Lendenstütze. Auf dem hinteren Plätzchen kommt der Sozius dem Piloten nun näher und thront nicht mehr so hoch auf dem Polster.

Wenig Stauraum

Die ausklappbaren Rasten liegen in angenehmer Höhe. Beim Windschutz bietet der große Gilera allenfalls Durchschnitt - trotz der elektrisch in der Höhe verstellbaren, dunkel getönten Scheibe. Richtig tourentauglich will der Maxi-Powerscooter ohnehin nicht sein, dafür ist schon allein die Mitnahmekapazität zu dürftig. Unter der praktischerweise per Druckknopf öffnenden Sitzbank gibt es einen 12-Volt-Anschluss und eine Staufachbeleuchtung.

Platz bietet das Fach immerhin für einen vollwertigen Integralhelm. Weiteren Stauraum gibt es aber nicht. Gut steht dem GP der neue Farbkontrast mit schwarzer Schwinge und Seitenteilen neben weißem Lack. Damit kaschiert er wenigstens optisch sein hohes Gewicht, am großen Preis von knapp 9 600 Euro kann das nichts ändern. (mid)

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Thomas Flehmer
Der diplomierte Religionspädagoge arbeitete neben seiner Tätigkeit als Gemeindereferent einer katholischen Kirchengemeinde in Berlin in der Sportredaktion der dpa. Anfang des Jahrtausends wechselte er zur Netzeitung. Seine Spezialgebiete waren die Fußball-Nationalelf sowie der Wintersport. Ab 2004 kam das Autoressort hinzu, ehe er 2006 die Autogazette mitgründete. Seit 2018 ist er als freier Journalist unterwegs.

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