Assistenzsysteme als neue Lebensretter

Tag der Verkehrssicherheit

Assistenzsysteme als neue Lebensretter
Notbremssysteme retten Menschenleben © EuroNCAP

Sicherheitsgurt, Airbag und ESP erhalten durch Fahrassistenzsysteme tatkräftige Unterstützung bei der Aufgabe, Leben im Verkehrsalltag zu retten. Für die angepeilte Vision Zero müssen aber noch andere Parameter gesetzt werden.

Die Anforderungen sind auf das höchste Level gelegt. Nicht nur Daimler-Chef Dieter Zetsche hat sich für sein Unternehmen die Vision Zero, den Verkehrsalltag ohne Verkehrstote, auf die Fahnen geschrieben. Am Tag der Verkehrssicherheit am 20. Juni stellt sich die Frage: Ist die Nullnummer tatsächlich realistisch?

Zahl der Verkehrstoten steigt leicht

Neun Menschen sterben im Schnitt jeden Tag auf deutschen Straßen. Das ist kein Vergleich zum traurigen Höhepunkt Anfang der 1970er Jahre, als etwa sechsmal so viele Verkehrsteilnehmer täglich ihr Leben verloren – bei deutlich geringerem Verkehrsaufkommen. Jahrzehnte später, in die Meilensteine wie Einführung der Gurtpflicht fielen, stagniert nun der jahrzehntelange Abwärtstrend: 2014 kamen 29 Menschen mehr ums Leben als im Jahr zuvor; 2013 markierte mit 3339 Toten den niedrigsten Stand seit Beginn der Erhebung. Auch im ersten Quartal 2015 ist die Zahl der Verkehrstoten leicht gestiegen. Ein ähnlicher Trend zeigt sich EU-weit: Die Zahl sank hier 2014 um lediglich um 0,6 Prozent.

Eine Problematik, die uns in den kommenden Jahrzehnten begleiten wird: Es wird immer schwieriger, die Ergebnisse weiter zu verbessern. Um die letzten Potenziale herauszukitzeln, ist das radikale Ziel – niemand soll mehr im Straßenverkehr sterben - wichtig. Der Lösungsansatz: „Menschen machen Fehler, deshalb muss man die Verkehrswelt so gestalten, dass sie Fehler verzeiht“, sagt Ute Hammer, Geschäftsführerin des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR). Heißt: Autobauer müssen ihre Fahrzeuge anpassen, Straßenbauer die Infrastruktur, Gesetzgeber die Vorschriften.

Hohe Ziele für Volvo

Den Ursprung hat Vision Zero im Arbeitsschutz. 1997 machte die schwedische Regierung das dort definierte Ziel zur gesetzlichen Grundlage ihrer Verkehrspolitik. Schweden ist mittlerweile eines der Länder in Europa mit den wenigsten Verkehrstoten. Im Jahr 2014 kamen pro einer Million Einwohner 29 Menschen bei einem Verkehrsunfall ums Leben, der EU-Durchschnitt liegt bei rund 50 (Deutschland: 42).

Kein Wunder also, dass sich der schwedische Autohersteller Volvo, der in dem skandinavischen Land einen Marktanteil von 20 Prozent hat, die Vision zum Markenkern gemacht hat: Ab 2020 soll niemand mehr in einem neuen Volvo sterben oder ernsthaft verletzt werden, langfristig sollen Volvo-Modelle überhaupt nicht mehr in Unfälle verwickelt werden, heißt es von dem Unternehmen.

Erfolgreicher Notbremsassistent

Dass Assistenzsysteme die neuen Lebensretter sind, lässt sich mittlerweile belegen: Nach Auswertung der Crashtest-Organisation Euro-NCAP haben Fahrzeuge mit Notbremsassistenten im Vergleich zu äquivalenten Modellen ohne 38 Prozent weniger Auffahrunfälle. Etwa fünf bis zehn Prozent des Pkw-Bestands in Deutschland sind derzeit mit einem Notbremsassistenten ausgerüstet, so Johann Gwehenberger, Unfallforscher bei der Allianz. Selbst Kleinstwagen wie VW Up (Aufpreis 615 Euro) oder Toyota Aygo (Aufpreis 390 Euro) haben das System an Bord.

Der Unfallforscher stellt die Notbremsassistenten auf eine Stufe mit den Lebensrettern Gurt, Airbags oder ESP. Die neue Generation, die auch bei höheren Geschwindigkeiten greift und plötzlich einscherende Fahrzeuge erkennt, könne künftig zwei Drittel der Auffahrunfälle verhindern, glaubt Gwehenberger. Kombiniert mit der Fußgängererkennung, die es schon in Mittelklasse-Fahrzeuge wie die Mercedes C-Klasse geschafft hat, erweitere sich das Potenzial.

Auch Straßeninfrastruktur wichtig

„Die Automobilindustrie ist sehr weit“, resümiert DVR-Geschäftsführerin Hammer. "Käufer sollten beim Autokauf viel stärker Wert auf Sicherheit erhöhende Fahrerassistenzsysteme legen und nach ihnen fragen!" Organisationen wie Euro-NCAP knüpfen das Bestehen mit einem Top-Crashtest-Ergebnis an immer mehr Bedingungen – wie das Vorhandensein eines Notbremsassistenten. Statt den schwerfälligen Gesetzgebungsapparat in Gang zu setzen – die Diskussion zur Einführung der Gurtpflicht zog sich ewig hin –, wird die Marktmacht der Verbraucher genutzt.

Viel Potenzial sieht DVR-Geschäftsführerin Hammer bei der Infrastruktur: „Straßen müssen so gebaut werden, dass sie Fehler verzeihen“. Unübersichtliche Kreuzungen entschärfen, mehr Leitplanken aufstellen, aber auch keine Bäume an Landstraßen mehr pflanzen: 20 Prozent der auf Landstraßen Getöteten sterben laut DVR bei Baumunfällen. „Dass sich etwas tut, sieht man beispielsweise an der zunehmenden Zahl der Kreisverkehre“, so Hammer. Oft scheiterten Maßnahmen aber an leeren Kassen.

Absolutes Alkoholverbot dringend empfohlen

Wenig kostenintensiv sind unpopuläre Maßnahmen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen – der DVR fordert Tempo 80 auf schmalen Landstraßen – und Alkoholverbot am Steuer. „Aus Sicht der Unfallforschung ist ein absolutes Alkoholverbot dringend zu empfehlen“, so Gwehenberger, ein generelles Tempolimit auf Autobahnen sei hingegen kein großer Sicherheitsgewinn. Verkehrsexperten halten es aber trotzdem für denkbar, dass derartige Vorgaben aus Brüssel kommen werden – schließlich hat sich auch die EU „Vision Zero“ auf die Fahnen geschrieben.

Dass ein Ziel von null Verkehrstoten tatsächlich Realität werden kann, zeigt übrigens eine Karte der Dekra-Unfallforschung (http://www.dekra-vision-zero.com/map/). Darauf zu sehen: Mehr als 800 Städte mit über 50.000 Einwohnern in Europa, den USA und Japan, die zwischen 2009 und 2013 mindestens in einem Jahr keine Verkehrstoten verzeichneten – 132 davon liegen in Deutschland. (AG/SP-X)

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Thomas Flehmer
Der diplomierte Religionspädagoge arbeitete neben seiner Tätigkeit als Gemeindereferent einer katholischen Kirchengemeinde in Berlin in der Sportredaktion der dpa. Anfang des Jahrtausends wechselte er zur Netzeitung. Seine Spezialgebiete waren die Fußball-Nationalelf sowie der Wintersport. Ab 2004 kam das Autoressort hinzu, ehe er 2006 die Autogazette mitgründete. Seit 2018 ist er als freier Journalist unterwegs.

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