Aprilia RS 660: Ungestümer Vorwärtsdrang

Aprilia RS 660: Ungestümer Vorwärtsdrang
Die Aprilia RS 660 ist mit 100 PS Leistung ausgestattet. © Aprilia/Thomas Maccabelli

Wer es mit der Aprilia RS 660 gemütlich angehen lassen möchte, der kann dies problemlos tun. Doch das Bike der Italiener kann auch ganz anders.

Jahrelang ging es bei den Motorradherstellern nur nach oben. Frei nach dem olympischen Motto „Schneller, höher, stärker“ kam ein PS-Bolide nach dem anderen auf den Markt. Aktuelle Topbikes reißen mit über 210 PS am Hinterrad und beschleunigen derart vehement, dass sie keine acht Sekunden für den stehenden Start brauchen – auf 200 km/h.

Aprilia hat auch solche Modelle im Programm. Aber mit der RS 660 künftig zudem ein feines Angebot eine Stufe unterhalb der ultrastarken V4-Motoren.

Leistung von 100 PS

Einen solchen Elfhunderter halbierten die Ingenieure aus Kostengründen, gaben ihm aber 11,7 Millimeter mehr Hub mit auf den Weg. Dazu ein Hubzapfenversatz von 270 Grad, siehe KTM oder Yamaha, schon fühlt sich dieser Motor wie ein charakterstarker V2 an. Manche Bauteile teilt sich der 660er mit dem V4, beispielsweise Drosselklappen, Kolbenringe oder Ventile. Aber er wurde mit 13,5:1 höher verdichtet.

Der italienische Hersteller Aprilia legt mit der RS 660 ein sportives Mittelklasse-Motorrad auf. Foto: Aprilia/Maccabelli

Aus 660 Kubikzentimetern Hubraum kitzelt Aprilia 100 PS und 67 Nm Drehmoment, gepaart mit einem ansprechenden Drehzahlband. Weder Traktor noch Turbine, weder Kaltblut noch Moskito. Besonders stolz sind die Italiener darauf, dass 80 Prozent des maximalen Drehmoments bereits bei 4.000 U/min anliegen und 90 Prozent ab 6.250 U/min. Erst bei 11.500 Touren setzt der Drehzahlbegrenzer ein.

Weitere Modelle folgen

Aprilia startet seine neue Mittelklasse-Linie zwar mit dem Sportbike RS 660, aber die nackte Tuono 660 und die geländetaugliche Tuareg 660 nähern sich ihrer Fertigstellung. Kommen diese drei Modelle wie geplant im Laufe des Jahres 2021, steht Aprilia an vorderster Front mit attraktiven Midsize-Maschinen und könnte insbesondere den japanischen Herstellern eine lange Nase drehen.

Freilich nur, wenn die Motorräder was taugen. In drei Testkriterien begeistert die neue RS 660: Motor, Ergonomie und Fahrwerk. Der Twin besitzt Manieren, lässt sich zivil bewegen, nimmt sauber Gas an, selbst die Seilzug-Kupplung funktioniert leichtgängig. Ein Gentleman, mit dem man bummeln kann. Doch sobald man den elektronischen Gasgriff aufreißt und die Drehzahl über 7.000 Umdrehungen schnalzt, beginnt das zweite Leben der 660er. Dann stiebt sie ungestüm nach vorn.

Quickshifter in Serie

Beim Rauf- und Runterschalten ist keine Kupplungshand vonnöten, Aprilia liefert den Quickshifter in Serie. Das funktioniert im kurvigen Geläuf einwandfrei, sogar wenn es in Haarnadelkurven zuBeim Rauf- und Runterschalten ist keine Kupplungshand vonnöten, Aprilia liefert den Quickshifter in Serie. Das funktioniert im kurvigen Geläuf einwandfrei, sogar wenn es in Haarnadelkurven zurück in den Ersten geht. Überhaupt fahren die Italiener das volle Elektronikprogramm auf: Kurven-ABS, Traktions- und Wheelie-Kontrolle, alle feinfühlig im glasklaren TFT-Cockpit einstellbar. Sogar das Motorbremsmoment kann man seinen Wünschen anpassen.

Auch die Ergonomie spricht für Aprilias neue Mitte. Die RS 660 ist nicht allzu hoch, selbst Kleingewachsene kommen mit ihren Füßen sicher auf den Boden und lange Kerls loben den Kniewinkel. Die Quadratur des Kreises? Ja, sozusagen. Der schmale Rahmen erlaubt es, die Fußrasten eng und tief anzubringen, ohne dass sie in Kurven schleifen. Oldschool wie in den 90er Jahren sind die halbhoch angebrachten Lenkerstummel. Ausgedehnte Tagestouren gelingen mit der RS 660 ohne Muskelkater. Soll ein Beifahrer mit, muss man den aufpreispflichtigen Soziussitz anstelle des schnittigen Solisten-Heckteils montieren. Was die RS trotzdem nicht in einen Tourendampfer verwandelt.

Glänzendes Fahrwerk

Beim Thema Fahrwerk glänzt Aprilia, wie es sich für 54 Weltmeistertitel ziemt. Es gibt nur wenige Motorräder, die auf Anhieb so viel Vertrauen vermitteln. Es ist der 660er ganz egal, welche Schwierigkeiten man ihr zumutet. Ob man sie durch Kreisverkehre prügelt, voll zusammenstaucht, über enge Passstraßen feuert – stets bleibt sie präzise und gelassen. So wird aus einem guten ein sehr guter Fahrer.

Auf Holperstrecken teilt das hintere Federbein aus, hier haben die Controller ihren Rotstift angesetzt und die Volleinstellung samt Umlenkung eingespart. Aber es ist nachvollziehbar, dass bei 10.700 Euro Kaufpreis nicht alle Teile exquisit sein können.

Noch einige Modifikationen

Die Aprilia RS 660 kostet 10.700 Euro. Foto: Aprilia/Thomas Maccabelli

Aprilia verspricht, bis zur Serienauslieferung Ende Oktober einige Ungereimtheiten abzustellen. Die rechte Schwingenseite bekommt einen Schutz, damit der Fahrerstiefel nicht mehr reibt. Der Fernlichtschalter wird gekürzt, damit man ihn nicht mehr versehentlich betätigt, die Logos werden überlackiert. Wenig Aufmerksamkeit schenkt man Spiegeln (zeigen primär Fahrers Ellbogen), Hupe und Kupplungshebel; letzterer ist nicht einstellbar.

Doch das ist Jammern auf hohem Niveau, denn die praktischen Dinge überwiegen. Wie die fein einstellbaren Schalt- und Bremshebel, der leicht erreichbare Seitenständer oder der herrlich kleine Wendekreis. Und das geringe Gewicht von 183 Kilogramm begeistert.
Unterm Strich überzeugt die neue Aprilia RS 660. Als Kurvensuchgerät erster Güte mit charakterstarkem Motor hat sie in der Mittelklasse kaum Konkurrenz zu fürchten. Zusammen mit den kommenden zwei Geschwistern könnte Aprilia ein Verkaufshit gelingen. (SP-X)

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